Wir wollen erinnern an einen für unseren Ort wichtigen Industriezweig und die damit verbundene Grundsteinlegung der Fabrik „Die Keramik“, wie sie umgangssprachlich bis heute bezeichnet wird.
1878 – Im August baut der damalige Obermühlenbesitzer Ferdinand Heißner eine Mühle am Mühlgraben, nahe dem Anspiel. Diese wird vermutlich bis 1880 von einem Herrn Strobel betrieben, der dort Terrakotta-Artikel fertigt.
1880 – Übernahme der Strobelschen Terrakottafabrik durch Oskar Mell, Umstellung auf Porzellanherstellung, Produktion so genannter Thüringer Massenartikel, wie Eierbecher, Salzgefäße, Kerzenhalter, etc., Bau eines zweistöckigen Gebäudes mit zwei Rund-Öfen.
1895 – Konkurs der Firma Mell.
1896 – Kauf der Porzellanfabrik, der Obermühle, in der Waldstraße 1, sowie einer angrenzenden Schneidemühle und verschiedener Ländereien durch Wichard Heene. Es entsteht in kurzer Zeit eine für damalige Verhältnisse modern eingerichtete Porzellananfertigung. Bau eines weiteren, nun vierstöckigen Fachwerkgebäudes.
1898 – beantragt Wichard Heene bei der Herzoglichen Baukommission in Gotha die Erweiterung des Betriebes (Abb. 1 und Abb. 3) auch für den Bau eines weiteren Ofens; es entsteht der größte Rund-Ofen der deutschen keramischen Industrie zu dieser Zeit (Abb. 2). Die Belegschaft wächst bis auf 300 Mitglieder an. Es werden Standfiguren, Nippes, Mokkatassen und Apothekengefäße produziert.
1912 – Konkurs der Firma Heene. Nach Konflikten mit der Gewerkschaft kommt es zu Arbeitsniederlegungen und Abwanderungen der Fachkräfte. Übernahme der Fabrik durch Fröhlich & Schwabe aus Ohrdruf durch den Modelleur Herrn Lux und durch Herrn Eichner, ein Fachmann aus Bayern. Bildung einer GmbH zur Herstellung von Steingutartikeln aus rotem Ton. Mit ca. 60 Arbeitskräften werden einfache, in der Handhabung praktische, Keramik-Artikel für den täglichen Bedarf fabriziert.
1914 – Im Jahr des Beginns des Ersten Weltkrieges wird der Betrieb an das Unternehmen Brandel & Schmidt verpachtet. Die Beschäftigten müssen die darauffolgenden vier Jahre Kartuschen für Granaten herstellen.
1918 – Christian Carstens aus Hamburg-Großflottbeck kauft die Fabrik mit ihrem gesamten Anwesen auf. Prokurist wird der Kaufmann Gustav Matz aus Gräfenroda. Der Zweigbetrieb Gräfenroda-Keramik der Carstens Kommandit-Gesellschaft bringt bis 1931 Zierkeramik-Produkte auf den Markt; 130 Arbeitskräfte sind angestellt.
1944 – müssen zwei Rund-Öfen für eine Holzkohlenerzeugung umgestellt werden. Im April 1945 verursachen Bombenabwürfe und Artillerieangriffe erhebliche Gebäudeschäden.
im Juli d. J. ist die Produktion wieder aufgenommen worden. Ein Sequester wird verpflichtet.
1946 – trifft den Betrieb ein harter Schlag: Eine Hochwasserkatastrophe zerstört das große Wehr und damit die Kraftquelle für den Betrieb mit 130 Beschäftigten. Der Schaden wird, gemeinsam mit der ortsansässigen Firma Hertam & Frank, zügig behoben.
1947 – wird „Die Keramik“ Volkseigentum. (Abb. 3)
1948 – werden eine Werkküche und ein Speiseraum ihrer Bestimmung übergeben. Es beginnt die Produktion von Ziersteingut, die sich von Jahr zu Jahr erhöht.
1952 – wird damit begonnen, in das westliche Ausland zu exportieren.
1964 – Einbau einer Kreisförderanlage und eines Kettentransportbandes für den gesamten innerbetrieblichen Transport. Abriss eines Rundofens.
1968 – Zusammenschluss der Betriebsteile Gräfenroda und Georgenthal.
1972 – Übernahme der bis dahin halbstaatlichen Terrakotta-Fabriken Balzer & Bock und Philipp Griebel.
1973 – Sperrung des großen viergeschossigen Produktionsgebäudes. Beginn der Projektierung einer neuen Produktionsstätte innerhalb des Betriebsgeländes.
1976 – Umzug der Produktion in neue Metallleichtbauhallen.
1977 – Abriss des vierstöckigen Fachwerkgebäudes mit dem großen Rund-Ofen.
1978 – Beginn schrittweiser Mechanisierungen und Rationalisierungen, verbunden mit ständiger Erhöhung der Produktion, vorwiegend für den Export.
1984 – ist der Produktionsausstoß gegenüber 1976 auf 434 Prozent angewachsen, bei einem Exportanteil von ca. 60 Prozent. Das Werk gehört damit zu den bedeutenden Exportbetrieben der DDR in der keramischen Industrie.
1985 – Abriss älterer und baufälliger Gebäude, Baubeginn eines neuen dreigeschossigen Produktionsgebäudes.
1988 – Inbetriebnahme der neuen Produktionsstätte mit den Abteilungen: Gartenzwergmalerei, Packerei, Dekoration.
1990 – das Unternehmen wird GmbH. Wegfall des Exports, Verringerung der Produktionspalette, folglich Einführung der Kurzarbeit und Entlassungen.
1991 – die Firma Heißner aus Lauterbach/Hessen übernimmt „Die Keramik“ und stellt die Produktionen auf Gartenzwerge aus Plaste und Ton, Gartenkeramiken, Figuren etc. um.
1996 – erste Produktionsanlagen werden ausgelagert.
1997 – wird die Produktion stillgelegt.
„Die Gräfenroda-Keramik“ hatte eine annähernd 100jährige Tradition von ihrer Gründung bis zur Schließung. Qualifizierte Fachkräfte beeindruckten durch ihr Geschick und ihr fachliches Können.
Sowohl manuell als auch maschinell gefertigte Zier-und Gebrauchskeramiken mit einer Vielfalt handgemalter Dekorationen sind heute wohl nur noch Zierde da und dort. Jedes der Stücke war ein Unikat. Handelsbeziehungen wurden während der Leipziger Messen u. a. mit Großbritannien, Frankreich bis hin nach Nordamerika geknüpft. Der Betrieb hatte einst 236 Beschäftigte in der Verwaltung und in der Produktion, davon 22 Absolventen von Hoch-und Fachschulen, 93 Facharbeiter.
Die Berufstätigen kamen auch aus den umliegenden Orten, in den Anfängen zu Fuß, später beförderten Betriebsomnibusse und die so genannten Arbeiterzüge der Deutschen Reichsbahn die Werktätigen nach Gräfenroda, auch zur „Keramik“.
Volkskunstgruppen der Gräfenrodaer Betriebe trafen sich in ihrer Freizeit, hatten Spaß und Freude an ihrem Hobby, dem Tanz und Gesang. Der „Männerchor der Keramik“, der in den 1960er Jahren von Roland Fischer geleitet wurde, war ein gefragtes Ensemble, das nicht nur im Speisesaal des Betriebes regelmäßig probte sondern auch mit ihren Auftritten die Gräfenrodaer und Urlauber erfreute.
Im Rahmen des Polytechnischen Unterrichts wurden Schülerinnen und Schüler mit den Techniken der Holz-, Glas und Porzellan-Industrie vertraut gemacht. In der „Keramik“ lernte die Jugend von den Erfahrenen; auf diese Art und Weise wurde bei diesem oder jenem das Interesse an einer Ausbildung, wie: Porzellanmaler/in oder Tonformer/in geweckt. (Abb. 4)
Direktoren waren nach 1945: Fritz Ganss, Friedebald Pemsel, Paul Brömel, Christian Schnauß, amt. Direktor 1979; Bernd Illgen, Klaus Adler, Rudi Gottschling, Peter Pöllat.
Technische Leiter waren nach 1945: Direktoren für Wissenschaft und Technik, stell. Werkleiter: Alfred Fimmel, Paul Hoffmann, Hans Koch, Berthold Lange, Christian Schnauß, Norman Höhler, Werner Engel, Dr. Klaus Jarczak. (alle aufgeführt in der Reihenfolge ihrer Nachfolger).
Im Bereich Verwaltung/ Absatz, Verkauf waren die Chefs: Herr Fiedler, Herr Pötsch, Siegfried Hauschild (Buchhalter); Rudi Nagel, Gudrun Gärtner (Leiter „Absatz“); Herr Steffen, Gabriele Schulz (Leiter „Ökonomie).
Am 27. August 2010 wird der Schornstein der ehemaligen „Keramik“ gesprengt. Die Stücke fallen auf die anderen Trümmer, die der Abriss der Gebäude schon hinterlassen hat. Das Prozedere wird unter der Überschrift „Ein Stück Vergangenheit“ in der Lokalpresse der „Thüringer Allgemeine“ kommentiert und dokumentiert. Inzwischen wird auf dem Gelände verkauft und Dienst geleistet. Eine Handelskette bietet Waren des täglichen Bedarfs an – und auch diverse Keramiken; die mit der berühmten Gräfenrodaer Bodenmarke sind nicht im Angebot. Eine Mauerwand am Mühlgraben (Rewe-Markt) erinnert heute an Produkte aus Keramik-Zeiten. Der Gräfenrodaer Horst Eckardt hat ihnen und ihren Herstellern zu Ehren uneigennützig ein adäquates Relief gestaltet.
Foto: Alexandra Preuß
Der Text ist zu einem überwiegenden Teil aus dem Buch „Holz, Glas, Ton …“ entnommen worden. Eine ausführliche Geschichte der Keramik-Industrie und die der Gräfenroda-Keramik kann dort gelesen werden. Greßler, Rotraut: Holz-Glas-Ton Auf Spurensuche nach alten Gewerben in einem Thüringer Flecken.
Firmengeschichte und Geschichten. Gräfenroda und umliegende Orte. Band 2. Waltershausen 2012. 256 S. S. 168-178. ISBN: 978-3-00-039766-0. www.sagestreffend.de
Weitere Literatur: Jochen Ehrhardt, Karl-Heinz Gran und Rotraut Greßler: Gräfenroda und Dörrberg 1919 – zwei werden eins. Gräfenroda und Waltershausen 2019. 157 S. S. Zeittafel. THSTA Gotha, Bauakten 1898 Sign. 1660.
————————————
Abbildungen
Abbildung 1 – Lageplan aus 1898, Fa. Heene.
Abbildung 2 – Querschnitt eines Rund-Ofens, 1898.
Abbildung 3 – Zeichnung für das Fabrikgebäude, 1898.
Abbildung 4- Unterrichtstag in der Produktion.
Schüler und Schülerinnen der 7b an der Polytechnischen Oberschule Gräfenroda verbrachten im Schuljahr 1957/58 diesen Tag im VEB „Gräfenroda-Keramik“.
V. l. n. r.: Arbeiter Walter Schötz; Schüler: Peter Koch, Lilli Pein, Hans-Günter Sievert, Manfred Pein, Helga Suck, Franz-Joachim Neumann, Ingrid Kühn, Renate Frank, Rita Müller, Pertrice Müller; Lehrer Roland Fischer
(Archiv Edeltraut Frank, Gräfenroda.)
Abbildung 5 – Ansicht des Hauptgebäudes bis zum Abriss 1997.
Jochen Ehrhardt und Rotraut Greßler