Der Geschwendaer Heimat- und Fremdenverkehrsverein organisierte vom 17. bis 24. Juni mit gewohnter Präzision und touristischem Weitblick eine Rundfahrt in den Nordteil der Republik Polen. Dort besuchten wir die nach Ende des Zweiten Weltkrieges an Polen, Sowjetrussland und Litauen abgetretenen deutschen Provinzen Pommern/Ermland und Ostpreußen.
Wir bewegten uns ausschließlich auf polnischem Territorium, denn die Reiseführerin Aleksandra riet davon ab, die Grenzregion zu Russland mit der Rominter Heide und seinen schon tausend Jahre berühmten Rotwild-Einstandsgebieten in Augenschein zu nehmen.
Die Reisegruppe verbrachte den ersten Tag in Stettin unweit von Deutschland in unmittelbarer Nähe der Uckermark und Hinterpommerns. Die Stadt ist zwischenzeitlich auf 420.000 Einwohner mit der prägenden Oder – rechtsseitig die eindrucksvolle Altstadt (Königstor, Kirchen, Universitäten, Rosarium und Friedhof) und linksseitig industriegemäße Infrastruktur gekennzeichneter Stadtteil mit riesigen Brückenkonstruktionen angewachsen. Auf einer Stadtrundfahrt mit dem freundlichen Reiseführer Peter erhielten wir einen Eindruck von der Stadt und im sehr schönen Einkaufstempel Galaxy waren die Auslagen preismäßig so wie in heimatlichen Gefilden.
Mittwochnachmittag lenkte Sven, der ein ausgesprochenes Qualitätssiegel der Busfirma Wollschläger aus Leina bei Gotha ist, mit seinem Komfortbus, in dem die achtundvierzig Mitfahrenden aus der Landgemeinde Geratal ausreichend Platz hatten, rund 400 km nach Danzig (Woiwodschaft Pomerskie). Von Donnerstag bis Montagmittag begleitete uns die Reiseführerin Aleksandra mit Heimatkenntnis, Humor und Einfühlungsvermögen. Sie brachte uns das 480.000 Einwohner große Danzig (1945 im April zu 90 Prozent kriegszerstört und mit dem Wiederaufbau zu 90 Prozent katholisch, davor seit der Reformation evangelisch und die Ostsee – Badestadt Sopot mit der längsten Seebrücke des Ostseeraumes) nahe. Die Reiseführerin räumte stets ausreichend Zeit für das individuelle Kennenlernen der städtischen Besonderheiten, wie den so eindrucksvollen Mariendom (größte Kirche aus Backsteingotik der Welt), der umfassenden Altstadt-Rekonstruktion, des Krantores als technisches Mittelalter-Denkmal und den Kai an der Mottlau ein.
Abends am Fronleichnamstag, einem religiösen (Erinnerung an das Heilige Abendmahl am Gründonnerstag) und gleichzeitig nationalem Feiertag mit tausenden städtischen, Woiwodschafts- und Nationalflaggen geschmückt, wurde im Gasthaus Bowke (du Schelml) ein Urdanziger Abendessen kredenzt. Danzig war Geburtsstadt des Philosophen Arthur Schopenhauer und des Schriftstellers Günter Grass. Unweit von Gdansk kam Lech Walesa zur Welt, seit Anfang der 1970 iger Jahre berühmt gewordene Elektriker und Gewerkschaftler (Solidarnosc) der vormaligen Lenin-Werft und Staatspräsident nach 1990.
Am Freitag verließen wir die Weichselniederung und gelangten mit dem Besuch der Marienburg in Marienburg in die Woiwodschaft Masuren-Ermland, dem ehemaligen südlichen Ostpreußen. Im Hotel Eva unmittelbar am See gelegen (Stadt Margowo – Sensburg) gab es bis Montag früh eine sehr gute Unterkunft und ausgezeichnete Bewirtung. Die Marienburg (Zamkowe w Malborku) – gegründet 1274 vom Deutschen Orden, Sitz des Ordens 1309,1466 an Preußen – gilt als Wunder der Backsteingotik mit Bedeutung über Ostpreußen hinaus. Die Ordensleute christianisierten die slawischen Pruzzen und gründeten 1.000 Dörfer und Städte. Eine Besichtigung der dreiteiligen Burg mit ihren mittelalterlich enthaltenen Bestandteilen ist sehr empfehlenswert.
Am Nachmittag ging es an den Oberlandkanal, eines der drei Weltwunder Ostpreußens, die anderen zwei sind die Marienburg und die Wanderdünen der Kurischen Nehrung (heute in Litauen und Russland gelegen). Mit ausgeklügelter Technik wurde ein Höhenunterschied von 99 m von Osterode nach Elbing gewissermaßen von See zu See überwunden. Die Schiffsfahrt vollzog sich auf dem Wasserkanal und mittels technischer Vorrichtungen über Wiesen hinweg. Dieses Wechselspiel ereignete sich mehrmals bis wir den Endpunkt der Fahrt erreichten. Das Wunderwerk der Technik wurde 1860 eingeweiht und von Georg Steenke konzipiert. Noch 1930 transportierten die Schiffe auf dem Kanal 50.000 Tonnen Waren. Mit dem Bau der Eisenbahn- und Straßenstruktur überwog mehr und mehr die touristische Nutzung, was sich aktuell noch auszahlt.
Nicht in einer solchen Dimensionierung wie die Marienburg, aber von der Baukunst (Altar und Orgel) nicht weniger eindrucksvoll bleibt der Besuch im Wallfahrtsort Heiligelinde (Swieta Lipka) in Erinnerung. Die Wallfahrtstätte am Kloster der Jesuiten-Mönche geht auf eine Legende aus dem 14. Jahrhundert zurück, weil ein Verurteilter in der Nacht die Mutter Maria mit dem Jesuskind aus Lindenholz schnitzte und sich so vor dem Vollzug der Todesstrafe bewahrte. Am Ort einer Kapelle entstand eine prächtige Kirche.
Anschließend fuhren wir an den Mauersee zu einer längeren Schifffahrt nach Steinort, dem Schlosssitz der Grafen Lehndorff, die Mitte 1944 zum Widerstandskreis um Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg im Führerhauptquartier gehörten. Danach chauffierte Sven die Reisegruppe in die Johannesburger Heide unweit von Rastenburg, wo sich von Mitte 1940 bis Ende 1944 im Görlitzer Wald die wichtigste (Wolfsschanze) der zehn Wehrmachtsleitstellen Ostpreußens befand. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges wurden die Bunker und andere Anlagen am 24. Januar von deutschen Truppen und am 27. Januar 1945 von den siegreichen Sowjettruppen gesprengt. Die Besichtigung der Wolfsschanze hinterließ einen makabren Eindruck, da bauliche Gigantomanie auch nicht verhinderte, dass ein diktatorisches Regime unterging und Flucht bzw. Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen und Pommern zur Folge hatte. Die Wolfsschanze dient heutzutage als nicht zu übersehende touristische Destination in der Woiwodschaft Masuren-Ermland als Friedensmahnmal. Reiseführerin Aleksandra beklagte die Verbrechen der nationalsozialistischen Reichsregierung scharf und zeigte genauso Empathie für das so unermessliche Leid durch Flucht und Vertreibung Hunderttausender Deutscher aus Ostpreußen und Pommern. In den letzten Kriegsmonaten blieb die Ostsee der letzte Ausweg, um Richtung Westen zu gelangen.
Mit dem Besuch der naturbelassenen Region in Kruttina und einer Staken-Fahrt auf dem gleichnamigen Flüsschen mit Kontakt zu Schwänen- und Entenfamilien konnten wir alle die Seele baumeln, tief Luft holen und uns vom Naturwald beeindrucken lassen. Dass die Masuren und das Ermland von mehreren Tausend Seen in ihrer Naturschönheit profitieren – seit Ende des 19. Jahrhunderts sind die allermeisten durch ein Kanalsystem aus wirtschaftlichen, hauptsächlich touristischen Gründen verbunden – bewies sich bei der Besichtigung von Nikolaiken. Denn wie dort profitieren vom See ganz offensichtlich die Kapitäne der Segel- und Motorboote besonders im Sommerhalbjahr. Land und Leute lernten wir bei Kaffee und Kuchen in der Nähe des Städtchens Rhein kennen. Die ehemals deutschstämmige Familie hat ein Faible für Übernachtung der sogenannten Heimweh-Touristen und präsentiert Sammlungen in ihren ländlichen Museen aus Ostpreußen-Zeiten.
Am Montagvormittag nahmen wir in Olsztyn (Allenstein), dem Verwaltungssitz der Woiwodschaft Masuren-Ermland Abschied von unserer Reiseführerin Aleksandra und Sven steuerte uns auf halbtägiger Fahrt ins westpolnische Poznan (Posen). Das 580.000 Einwohner große Poznan am Fluß Warthe ist Verwaltungssitz der Woiwodschaft Großpolen und fünftgrößte Stadt Polens. Am Dienstagmorgen startete die Rückreise über Zgorcelec und Görlitz – Dresden ins Geratal. Die Reisegruppe erreichte die Heimat um 19:00 Uhr glücklich, zufrieden und voller Eindrücke.
Dem Ehepaar Edeltraud und Klaus Lüdeke ist ein besonderer Dank zu zollen, denn die Vorbereitung und Realisierung einer Wochenfahrt in die Masuren verlangt strategische Planung sowie Kraft und Geschick für eine reibungslose Durchführung. Da die Familie Lüdeke durch sehr rührige HFVV-Mitglieder immer eine gute Flankierung hat, hoffen insbesondere die geduldeten Nichtmitglieder auf die Fortsetzung der Vereinsfahrt im Jahr 2026.
Dr. Karl-Heinz Müller